Nach der verlegerischen Tat, sämtliche fünfundsiebzig Maigret-Romane und die gesammelten Maigret-Geschichten George Simenons neu herauszugeben, legt Diogenes nach: Es folgen die Non-Maigrets, die „romans durs“, allerdings nur in ausgewählter Form. Insgesamt schrieb Simenon über hundert Nicht-Maigrets unter seinem Namen. Die Diogenes-Reihe ist auf fünfzig Bände angelegt.
„Die Verlobung des Monsieur Hire“ erschien 1933, also einem Jahr, in dem bereits der Tonfilm mit Filmen wie „King Kong und die weiße Frau“ Erfolge feierte. Und doch habe ich beim Lesen die groteske Schatten-Ästhetik expressionistischer Stummfilme vor Augen. Monsier Hire könnte ich mir auch als traurigen Charly Chaplin vorstellen.
Erster Satz: „Die Concierge hüstelte, bevor sie klopfte und mit einem Blick auf den Gartenkatalog, den sie in Händen hielt, ausrief: ‚Ein Brief für Sie, Monsieur Hire!‘
Obwohl Monsieur Hire die Tür nur einen Spalt breit öffnet, erblickt die Concierge voller Entsetzen ein blutiges Handtuch. Hat sich Monsieur Hire nur geschnitten oder ist er der Täter, der für den Tod einer erst kürzlich in der Nachbarschaft ermordeten Frau verantwortlich ist?
Es ist bemerkenswert, wie Simenon diesen Monsieur Hire in der ersten Hälfte des Romans zeichnet: Als blassen Sonderling ohne Ecken und Kanten, auch physisch: Man kann an ihm „weder Muskeln noch Knochen erkennen, alles an ihm war so weich und glatt, dass auch seine Bewegungen etwas Unentschlossenes bekamen. An seinem runden Gesicht fielen einem zuerst die kräftigen roten Lippen auf, dann der gekräuselte, wie mit Tusche gezeichnete Schnurrbart und die rosigen Puppenwangen“.
Monsieur Hire erscheint dem Leser als eine Art Autist, der seine Umwelt allenfalls als „Gewühl“ wahrnimmt, unfähig, sich zu artikulieren.
Die Kälte seines inneren Empfindens begleitet den Leser das ganze Buch über auch in den äußeren Umständen: Monsieur Hire flüchtet ins „kalte Dunkel des Korridors“, nachdem die Concierge und ein Inspektor ihm aufgelauert haben. Minutiös beschreibt Simenon, wie im stets kalten Ofen in Monsieur Hires Wohnung mühsam das Feuer entfacht wird. Dabei umgeben ihn „Stille und Kälte“. Und dennoch bleibt es in seinem Zimmer „kälter als draußen“. In seinem Zimmer scheint Monsieur Hire gefangen wie im Netz einer Stimme, starr wie eine Puppe sitzt er stundenlang lauschend auf die Geräusche in den Nachbarwohnungen „als wäre er in Zeit und Raum festgewachsen“. Und je später der Abend fortschreitet, desto regungsloser verharrt Monsieur Hire, während sich „seine Zehen in den Pantoffeln vor Kälte krümmten“.
Lieblingssatz: „Er saß da wie in einem Zug, der nach nirgendwohin fährt.“
Zunächst leiden wir mit. Wir leiden mit, wenn diese bemitleidenswerte Figur regungslos in ihrem Zimmer sitzt und friert und wartet. Wir leiden mit, indem wir gewahr werden, dass sich die Gerüchteschlinge immer enger um seinen Hals zieht.
Wieso quält sich dieser Mensch? Was treibt ihn? Nun, die Geschichte des Monsieur Hire ist auch die Geschichte einer Obsession. Abend für Abend beobachtet er im erleuchteten Fenster gegenüber das Dienstmädchen Alice. Sie symbolisiert das Gegenteil seiner Kälte. „Rosige Backen“, Wärme, Hitze … gar erwiderte Liebe?
Etwa gegen Mitte des Romans, schlägt Simenon das Ruder herum. Die bislang roboterhafte Gestalt des Monsieur Hire wird mit Persönlichkeit gefüllt. In dem Moment, in dem er zu sprechen beginnt, erhält er eine Vergangenheit. Doch schon zuvor enthüllt Simenon einige Facetten des Monsieur Hire, die wir nicht vermutet hätten. Zumeist sind diese – wie seine voyeurhafte Angewohnheit, in das Zimmer des Dienstmädchens zu blicken – erotischer Natur. Nach unserem heutigen Moralempfinden erscheinen gerade diese äußerst altbacken – zumindest die moralische Entrüstung darüber.
Was bleibt, ist die bemerkenswerte Studie über einen Sonderling, der als Außenseiter gebrandmarkt wird. Und das wiederum ist ein nach wie vor hochaktuelles Thema, finde ich.
Letzter Satz: „Und in Villejuif begann man sich zu sputen, weil eine ganze kleine Welt ihre zweistündige Verspätung aufholen musste.“
Geroge Simenon: Die Verlobung des Monsieur Hire (Ausgewählte Romane Band 1)Diogenes (Zürich 2010), Pappband, 172 Seiten
Fazit: Ein äußerst beklemmender, nichtsdestotrotz beeindruckender Auftakt der Reihe. Die innere wie äußere Kälte, die einem bei der Lektüre frösteln lässt, ist allgegenwärtig.